Heute warte ich noch die verbleibenden Recorder vier und fünf, ich fahre mit dem E-Bike zuerst zum Recorder in der Nasswiese ganz am Rand des Grundstücks. Vor Ort zeigt sich ein ähnliches Bild wie auf der Streuwiese: Der Deckel des Recorders liegt am Boden, die Batterien auch. Da fallen Waschbären wohl weg – ich glaube nicht, dass sie es schaffen, die Batterien aus dem Gerät herauszuklauben. Jemand scheint sich an den Recordern zu schaffen gemacht zu haben oder sie wurden in großer Hektik gewartet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand gleich zwei Recorder findet und absichtlich öffnet…
Es ist frühlingshaft mild, in den Senken liegt Nebel und die Landschaft zeigt ihr Postkartengesicht – ganz im Gegensatz zu den letzten zwei Tagen. Als ich zum Haselbachtal und der Furth fahre, kommen mir schon wie im September sofort die Heckrinder entgegen, sie haben Kälber und sehen nicht so aus, als seien sie meinem Besuch besonders geneigt. Ich fahre zurück zum Gut Nantesbuch und frage Herrn Strobel, ob er mich mit dem Auto zwischen den Kühen durchlotst – das Auto als Schutzschild gegen allfällige Angriffe benutzend.
Die Kühe sind dieses Mal ausgesprochen wehrhaft, insbesondere die Leitkuh. Gemäß Herrn Strobel wurde sie von Hand aufgezogen und hat keine Scheu vor Menschen – sie kommt uns beim Warten des Recorders gefährlich nahe, senkt die Hörner und scharrt mit dem Huf im Erdreich. Der Recorder am Bach hier hat leider nicht aufgezeichnet – zum Glück nur seit der letzten Wartung Anfang Januar. Das ist etwas mehr als Monat und einigermaßen zu verkraften.
Einiges ist nicht richtig gelaufen oder hat gar Schaden genommen: Die Wetterstation beim Langen Haus wurde vom Sturm umgeworfen, das Anemometer ist dabei zerbrochen. Ein Grund, bald wieder mit Ersatzteilen zurückzukehren – obwohl die Wetterstation nur einen allgemeinen Eindruck der klimatischen Bedingungen im Großraum des Perimeters vermitteln kann. Meine letzten Studienzeigen, dass die Dynamik der akustisches Diversität/Komplexität direkt auch an mikroklimatische Schwankungen gekoppelt ist. Was nicht weiter erstaunlich ist, denn die meisten Tiere werden im Tagesverlauf je nach Temperatur aktiv oder ziehen sich zurück/ruhen, um nicht mehr als nötig Energie zu verbrauchen. Das ist klassische Ökologie: Kreisläufe der Sonnenergie bei allem Lebendigen auf der Erde.
Demensprechend müssten die Recorder-Standorte bald durch mikroklimatische Messgeräte ergänzt werden, um einen detaillierten Einblick in diese Zusammenhänge bekommen zu können.
Da der Deckel des Recorders in der Streuwiese abgerissen war, montiere ich eine Wildkamera am selben Baum. Eigentlich können es nur Menschen oder Waschbären gewesen sein – Letztere haben das auch in einem anderen Projekt im Spreepark in Berlin geschafft. Eine weitere Kamera installiere ich im Moor. Dieser Standort ist meist so still, dass ich beim Abhören im Studio lauter drehen muss, um zu überprüfen, ob etwas aufgenommen wurde. Da nimmt es mich wunder, ob überhaupt Tiere in der Nähe des Recorders unterwegs sind.
Obwohl der Schneefall gestern schnell wieder aufgehört hat, sind immer noch weiße Flecken über das Moor verteilt, und auf ihnen finden sich einige Spuren der Bewohner oder Durchquerenden des Moors: Hirsche, Rehe, Füchse und kleinere Tiere haben ihre Trittsiegel und Losung hinterlassen.
Was mir bereits im September aufgefallen ist: Am Rand des Moors sind einige Spirken frisch abgestorben – sie haben durch Schädlingsbefall bereits Teile der Rinde verloren. Das Moor scheint dieses oder letztes Jahr an den Rändern trockengefallen zu sein. Die Spirken allgemein im Moor sehen nicht sehr gesund aus – sie sind stark ausgelichtet, einzelne Äste bereits abgestorben. Das kann aber auch andere Ursachen als Trockenheit und damit verbundene Schwächung der Abwehrkräfte der Bäume haben – womöglich sind hier auch noch Schadstoffe im Spiel? Oder sind Bereiche des Moors bereits seit langem einem stark schwankendem Wasserspiegel ausgesetzt?
Da die Meetings auch heute wieder länger dauern, liegt nur noch die Wartung des Geräts beim Permakultur-Garten drin, bevor es wieder dunkel wird. Ich versuche vor Ort mit meiner Action-Cam noch Fotos im Innern eines hohlen Baums zu machen: Darin befand sich in den letzten Monaten ein Hornissennest. Auf dem Bild sind aber keine Spuren des Nests zu sehen – womöglich wurde es entfernt oder von Tieren gefressen.
Neben dem Zaun des Gartens deuten die vielen, tiefen Trittspuren im Schlamm darauf hin, dass die Heckrinder nun auch hier durchziehen und ich bin froh, dass von ihnen gerade nichts zu sehen ist. Im September wurde es kurz brenzlig auf der Weide im Haselbachtal: Die Leitkuh war von unserem Besuch wenig angetan und jagte uns mit Unterstützung des Stiers von der Weide.
Der Recorder beim Permakultur-Garten hat nur eine 32 GB-Karte drin und die ist längst voll, er hat bereits im Dezember aufgehört aufzuzeichnen. Der Recorder im Moor wurde gar nicht gewartet in den letzten Monaten – womöglich hatte ihn die beauftragte Person gar nicht erst gefunden.
Beim Anhören der Aufnahmen am Abend fällt mir auch Verkehrslärm im Moor auf. Auch da sind die Geräusche einer größeren Straße zu hören – wohl wegen dem fehlenden Laub am Unterwuchs im Wald. Schade natürlich, aber genau so strukturiert sich die Wirklichkeit der Soundscape hier wie auch an den meisten anderen Orten im alpinen Raum. Der Verkehr ist in vielen meiner Aufnahmen omnipräsent.
Nun nehme ich bereits seit bald über zwei Jahren die Soundscape von Nantesbuch auf und beginne eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Geräusche dieser Landschaft sich durch die Jahreszeiten und Jahre verändern. Mir wird bewusst, wie ungemein spannend das Gebiet der Voralpen ökoakustisch ist: Dieser Raum wird sich im Zuge der Klimaerwärmung radikal verändern. Bisher verwöhnt durch kühle und feuchte Bedingungen mit viel verfügbarem Wasser, wird die immer stärker zutage tretende Trockenheit ihre Spuren in der Vegetation und der Fauna und somit in der Soundscape hinterlassen, ganz abgesehen vom Verkehr, der, so erzählt es mir der Fahrer der Stiftung, der in Bad Tölz wohnt, in der Pandemie stark zugenommen hat, weil viel mehr Leute in die Berge fahren. Besonders im Winter zum Skifahren.
Das Wasser zieht beim heutigen Besuch meine Aufmerksamkeit auf sich: Ich habe eine Unterwasserkamera mitgebracht und fotografiere in Tümpeln und Bächen. Mich interessiert dabei, welches ästhetische Potential in den Bildern zu finden ist – man sieht unter Wasser nicht weit, es liegt viel sich zersetzendes organisches Material im Wasser, dieses ist von den Huminstoffen stark braun gefärbt.
Vier Monate ist es bereits wieder her, seit ich das letzte Mal in Nantesbuch war – das letzte Mal im September letzten Jahres zur Einweihung des Senders und der Installation anlässlich des Literaturfests.
Seit gestern früh fällt Schnee, es ist kalt in den Gummistiefeln, trotz doppelter Sockenschicht. Da mein Bus nach München stark verspätet war, ist bereits später Nachmittag, als ich zum Recorder gleich unterhalb des Langen Hauses durch Schnee und Morast stapfe. Das Licht reicht noch für ein- zwei Fotos, dann dunkelt es schnell ein und ich muss mich mit der Wartung beeilen.
Bereits von weitem sehe ich, dass kein Deckel auf dem Recorder ist; er liegt auf dem Boden unter einer dünnen Schneeschicht. In der App überprüfe ich, ob er noch läuft: Tatsächlich scheint ihm die Feuchtigkeit nichts angehabt zu haben, er hat aber nur bis 27. Januar aufgenommen – vermutlich war es dann doch irgendwann zu nass und er ist ausgestiegen.
Die Landschaft ist still, Schnee rieselt und lässt die dürren Blätter einer Buche in der Nähe rascheln. Was mir auffällt, ist dass man den Verkehr auf der Landstraße unter dem Gut Karpfsee viel besser hört als zuvor – das scheint am fehlenden Laub im Wald zwischen der Streuwiese hier und der Straße zu liegen; so viel zur Lärmschutzwirkung von Vegetation und Begrünung.
Die gesamte Woche verbringe ich in München im Theater HochX mit dem Neuen Kollektiv München und wir proben meine Komposition «Posterity Musical Ecosystem». Die Übersetzung der Meteodaten aus Nantesbuch in Noten, die die Musiker*Innen auch spielen und die Sängerin singen können, war sehr aufwändig und hat einige Monate an Arbeit gefordert – hinzu kamen die coronabedingten Verzögerungen – nun ist es bereits über ein Jahr her, seit die Uraufführung geplant war und wir sind alle froh und erleichtert, endlich musizieren zu dürfen, hier der Ankündigungstext:
Posterity Musical Ecosystem
Ein musikalisches Ökosystem, basierend auf der Landschaft von Nantesbuch
Neues Kollektiv München mit Marcus Maeder
Parallel zum Projekt Posterity, wo in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Horchposten die Klanglandschaft und das Klima von Nantesbuch beobachtet und über einen Radiosender hörbar gemacht werden, wird eine musikalische Live-Performance erarbeitet, die am 25. Juni 2021 im Theater Hoch X in München uraufgeführt wird.
Posterity (engl. Nachwelt) beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Klanglandschaft sich in Zeit und Raum verändert und inwiefern Renaturierung und Klimawandel in einer Landschaft hörbar sind, respektive künstlerisch untersucht und erfahrbar gemacht werden können.
Das Posterity Musical Ecosystem ist kein konventionelles Konzert, sondern eine konzertante Installation, ein begehbares musikalisches System, welches in drei Zeitfenstern besucht werden kann. Die Idee besteht darin, ein musikalisches Ökosystem für einen Abend entstehen, wachsen zu lassen: Neben gemeinsamen Live- Improvisationen der beteiligten Musiker/innen werden zu spezifischen Zeitpunkten für einzelne Instrumente komponierte Stücke aufgeführt – wie Stimmen einzelner Tiere, die zu gewissen Zeiten im Tagesgeschehen einer Soundscape zu hören sind.
Dabei beschäftigt uns die Frage, wie die Landschaft von Nantesbuch und natürliche Prozesse in ihr musikalisch klingen könnten. Ausgangslage dazu sind Field Recordings, die mit fünf automatischen Recordern, die im Perimeter von Nantesbuch verteilt sind, gesammelt werden. Die Musik soll hier aber nicht die natürlichen Geräusche imitieren, sondern eine eigenständige, «anthropogene» Ergänzung und Stimme im Chorus – eine musikalische Empfindung der Voralpen- und Moorlandschaft von Nantesbuch sein, die sich aus wissenschaftlichen Messdaten speist. Die komponierten Stücke der Performance basieren auf Wetterdaten – sie verschränken sich im musikalischen Ökosystem mit Field Recordings und dem Radio-Livestream des Posterity-Senders in Nantesbuch.
Die Klanginstallation ist nun seit einigen Monaten fertig und derzeit im Lager meines Ateliers eingestellt. Die Eröffnungsveranstaltung musste wegen Corona bereits mehrere Male verschoben werden, auch konnte ich seit September letzten Jahres nicht mehr nach Deutschland reisen und die Recorder im Feld warten. Das haben in der Zwischenzeit Leute der Stiftung übernommen und mir die SD-Karten zugeschickt.
So kann der Klangfluss im Radio auf dieser Seite dennoch gewährleistet werden und hoffentlich kann ich dieses Journal bald wieder mit neuen Beobachtungen im Feld weiter führen. In der Zwischenzeit sollen erste Analysen der Audioaufnahmen zeigen, wie sich die Dynamik der Biodiversität im Tagesgang und durch die Jahreszeiten Herbst und Winter strukturiert. Mehr dazu demnächst hier im Blog.
Alle Recorder haben lückenlos aufgezeichnet – ausser Nummer eins. Als wir durch das vom Regen nasse Gras streifen, fliehen drei Rehe, die sich in den hohen Halmen versteckt hatten. Dieser Recorder scheint einer derjenigen zu sein, die von Wildlife Acoustics zurückgerufen worden sind. Wegen Corona und Personalmangel konnten offenbar nicht alle Geräte geprüft werden – einige haben fehlerhafte Abdichtungen und lecken; der Recorder in der Streuwiese hier hat sich mit Wasser gefüllt und nichts aufgezeichnet.
Wiederum will sich allerlei fliegendes Getier an mir laben – im Moor lästige Hirschläuse (Lipoptena cervi), auf den Wiesen Bremsen (vermutlich Haematopota pluvialis), im Wald Mücken (vermutlich Culex pipiens)… diesmal bin ich nicht der einzige, der von Insektenstichen übersät ist. Zudem regnet es in Strömen und Regenwald-Erinnerungen kommen auf. Ich muss beim Gedanken lächeln, dass man gar nicht tausende Kilometer fliegen muss, um ähnliche Strapazen im Wald durchzumachen; ganz ausgehungert kommen wir jeweils zu den Essenszeiten ins Lange Haus.
Auch sonst ist der heutige Tag reich an Abenteuern: Ken holt sich am Zaun beim Permakultur-Garten einen Stromschlag und mit dem unter Strom gesetzten Assistenten gehen die Daten, die er mit der SD-Karte in der Hand hält, verloren. Ich höre mit Annette Kinitz in die ersten Aufnahmen rein und mir wird bewusst, wie fremdartig unser Radio klingen wird: Umweltgeräusche auf einem analogen Radiosender – ein wirklich schöner Moment der Irritation.
Beim Streifen durch die Landschaft hier fällt mir auf, wie viele Jagdhochsitze überall stehen. Beinahe an jedem Waldrand sind die hölzernen Konstruktionen zu sehen. Und wiederum verstärkt sich der Eindruck, wie sehr diese – wohl die gesamte Zentraleuropäische – Landschaft von Menschen geprägt ist. Eine Frage, die mich in vielen Gebieten, in denen ich arbeite, beschäftigt, ist: Was beobachte ich hier, wie wird sich die Landschaft auf unterschiedlichen Skalen entwickeln? – Respektive und auf den Punkt gebracht: Sehe ich hier bloss nur dem Niedergang von Ökosystemen zu oder kommt irgendwo, irgendwann auch der Moment, wo eine Erholung, eine positive Entwicklung beobachtbar wird?
Wiederum eine Fahrt vom Bahnhof Penzberg durch dunklen Fichtenforst und hellgrün aufscheinende Wiesen. Eine zaghafte Vertrautheit stellt sich ein, als wir zum Langen Haus hinauf fahren. Diesmal ist Ken Gubler, mein Assistent, dabei. Ich werde ihm die Recorder-Standorte zeigen, damit er die Wartung übernehmen kann, falls ich einmal verhindert bin. Am nächsten Morgen ziehen wir zeitig los, um die Standorte aufzusuchen und die Speicherkarten auszuwechseln.
Es hat am Vortag intensiv geregnet – viele Wiesen und Teile der Strasse sind überflutet. Im Langen Haus angekommen, bespreche ich mit Annette Kinitz meine neue Idee für eine Klanginstallation, die das Radio beherbergen soll: Ein kubisches, schwarzes Blachenzelt, ein mobiles Studio für unser Posterity-Piratenradio schwebt mir vor, welches sich schnell an unterschiedlichsten Orten aufbauen lässt. Die Idee lehnt sich an die Piratenradios der 1980er- Bewegung in Zürich an, die schnell ihren Standort in den Wäldern um Zürich oder am Üetliberg wechseln mussten, um nicht von der Polizei geortet werden zu können.
Die Bewilligung für einen temporären Sender scheint kein grösseres Problem zu sein, und so freue ich mich, wieder einmal seit langer Zeit eine Radioprojekt auf die Beine stellen zu dürfen.
Ken und ich machen uns auf zum Recorder im Moor – ich gespannt, ob er noch läuft und was er Interessantes aufgezeichnet hat. Dort angekommen, suchen wir einige Zeit, bis wir das Gerät anhand der notierten Koordinaten und dem Kompass auf dem Smartphone finden. Der Weg durch den Fichtenwald zum Moor ist märchenhaft – überall feuchtes Moos und weiss schäumende Stromschnellen, da wo der Bach über freigelegtes Wurzelwerk sprudelt.
Die Aufnahmen aus dem Moor sind zwar etwas leise, aber das zahlt sich bei Regen und Wind aus, da sie dann nicht übersteuern. Überhaupt ist es im Moor im Vergleich zu den anderen Standorten sehr still, es sind wenig Tiere zu hören.
Vierundzwanzig Stunden nach der Montage suche ich die Recorder auf, um zu schauen, ob sie funktionieren und ob die Aufnahmen brauchbar sind. Sie sind beim Anhören zu leise, ich muss den Pegel in den Einstellungen der Recorder auf +18 dB erhöhen. Das verzögert meine Abreise aus Nantesbuch – in grosser Eile fahre ich mit dem E-Bike nochmals alle Standorte ab und ändere die Einstellungen, starte die Recorder neu und hoffe, dass alles in den zwei Monaten, bis ich wiederkomme, reibungslos läuft.
Die hüfthohen Gräser und Blumen in den Wiesen sind nass vom Tau, bereits nach meinem Gang zu Recorder eins bin ich völlig durchnässt und werde von Bremsen, Fliegen und Mücken umschwirrt. Und trotz der Eile betört mich an diesem Taumorgen die Flora und Fauna der Wiesen hier – die gelbschwarze Spinne in ihrem Wasserperlennetz genauso wie die violett-weissen Blumen im Schatten des Waldrandes. Ich komme mir zuweilen vor wie im Dschungel Amazoniens: Das von den Gerbstoffen der Moore braungefärbte Wasser der Bäche und Flüsse, die konstant hohe Feuchtigkeit, das nahezu undurchdringliche Dickicht an den Moorrändern erinnern mich an den Regenwald – auch wenn ich hier am Alpennordrand um einiges lästiger von Insekten belagert werde als im brasilianischen Dschungel.
Annette Kinitz, die leitende Kuratorin der Stiftung Kunst und Natur, holt mich an der Endstation einer Münchner U-Bahn ab. Auf der Suche nach unserem Treffpunkt fällt mir auf, dass in dieser Gegend einige Straßen Schweizer Namen haben – im Café, in dem ich in der Nähe der Busstation, an der wir abgemacht haben warte, sitzt am Nebentisch ein junger Mann in Tarnkleidung und spielt ein Egoshooter-Game auf seinem Handy. Die lauten, digitalen Zurufe und Schiessgeräusche des Spiels hallen über den Platz und lassen mich schnell wieder aus dem Café verschwinden.
Wir fahren durch weite Waldgebiete, die sich mit Wiesen und Mooren abwechseln. Im Gut Karpfsee beim Langen Haus angekommen, steige ich mit dem Biologen Konstantin Reetz in ein Geländeauto, wir besichtigen die Landschaft, in der meine Recorder platziert werden sollen. Im dichten Gestrüpp waten wir durch den Sumpfboden, überspringen Entwässerungskanäle und kreuzen mehrere Moore. Dort ist es sehr still; es sind nur wenige Vögel und praktisch kein menschlicher Lärm zu hören.
Die Moore sind in der Landschaft selbst von der Kuppe des Guts Karpfsee nicht direkt zu sehen, sie sind alle von Fichtenforsten (Picea abies) umgeben. Man hat die Bäume am Rand der Moore angepflanzt, wo sie bessere Wachstumsbedingungen haben als in den dauernassen nähr- und sauerstoffarmen Moorböden. Auf moosbewachsenem Boden mit Heidelbeersträuchern (Vaccinium myrtillus) treten wir in den Wald, durchqueren ihn, bis sich der Rand des Moors durch die sich verändernde Vegetation bemerkbar macht. Hier geht der Fichtenwald in lichten Birkenbruchwald, wie er für Moorränder typisch ist, über. Die Fichten mischen sich mit Moorbirken (Betula pubescens s. l.) und ersten Moor-Bergkiefern, den so genannten Moor-Spirken (Pinus x rotundata).
Diese kommen nur in den alpennahen «Spirkenmooren» vor und sind eine Subspezies der Bergkiefer (Pinus mugo), die sich an die feuchten und nährstoffarmen Bedingungen im Moor angepasst hat.
Die feuchte Landschaft mit ihren vielen Seen und Mooren im Süden Münchens ist von den vordringenden und sich zurückziehenden Gletschern der Alpen geprägt worden. Viele Seen und Teiche sind nach dem Abschmelzen von Toteisblöcken geblieben, mit der Zeit verlandet und zu Mooren geworden. Die Moore werden durch sich stauendes Regenwasser und einen hohen Grundwasserspiegel gespiesen, sie sind nährstoffarme und saure Lebensräume mit einer Flora und Fauna, die sich an diese extremen Lebensbedingungen angepasst hat. Zentrales Element der Hochmoore ist ihre über Jahrhunderte bis Jahrtausende gewachsene Moosschicht (Sphagnum spec.), die den Torf bildet. Moore waren durch Torfabbau und sind immer noch durch Düngemitteleinträge aus der umgebenden Landwirtschaft stark gefährdet – lebende und wachsende Hoch- oder Regenmoore gibt es heute kaum noch. Auch der Klimawandel setzt ihnen zu, lange Trockenperioden im Sommer lassen sie trockenfallen und die Pflanzen sterben ab.
Auch den Fichten an den Moorrändern sieht man die Trockenheit der letzten Jahre an. Der Blick muss nicht weit schweifen, um abgestorbene Bäume und Borkenkäfernester auszumachen. Die Landschaft beginnt sich zu verändern. Konstantin Reetz fährt mich noch zu drei anderen, für diese Landschaft typischen Biotopen – es sind Nasswiesen und ein flaches Tal, das Haselbachtal. Ein dunkelbraunes Flüsschen mäandriert durch die Wiesenlandschaft, an deren Rand im Schatten des Waldes kleine Pferde grasen. Wir steigen bei einer Furth aus, er erzählt mir, dass verschiedene Gebiete auf dem Gelände der Stiftung renaturiert werden – das hat hier mit dem Haselbach begonnen, dem man einen natürlichen Verlauf gegeben hat und die Wiesen nur noch extensiv beweidet. Das trifft auch auf die anderen zwei Flächen zu – lange Zeit wurde hier das Gras geschnitten und der Boden entwässert und gedüngt – unübersehbar überall die monoton grünen Teppichflächen, die vielerorts die Landschaft Bayerns prägen. Zwei Wiesen werden nun sich selber überlassen und die Entwässerung aufgehoben. Ganz neu ist der Permakultur-Garten beim Gut Nantesbuch, der erst seit wenigen Jahren bewirtschaftet wird.
Unter unseren Stiefeln schmatzt der durchnässte Boden – niemals könnte man hier mit Wanderschuhen durchgehen und trockene Füße behalten. Zurück im Langen Haus wählen wir über eine Karte gebeugt die Standorte für die Recorder aus. Sie sollen überall da platziert werden, wo in den nächsten Jahren Veränderungen in der Landschaft, in der Soundscape erwartet werden. Sei dies eine möglicherweise steigende Biodiversität in den renaturierten Gebieten oder negative Veränderungen in der Fauna und Flora an den von zunehmender Trockenheit betroffenen Orten. Und wie so oft zahlt es sich aus, ohne konkrete Vorstellungen an einen neuen Ort zu kommen und die Projektidee aus den Gegebenheiten und Fragestellungen in einer Landschaft heraus zu entwickeln.
Mit *Posterity – so soll dieses Beobachtungsprojekt heißen – zeichne ich ein künstlerisch-wissenschaftliches Landschaftsbild. Ein Zeitbasiertes, Dynamisches, welches sich einerseits mit akustischen Aufnahmen an spezifischen Orten in der Landschaft von Nantesbuch durch die Tages- und Jahreszeiten hier im Radio entfaltet. Andererseits soll das, was ich erlebe und höre, Eingang in dieses Journal finden und einen Diskurs über die Landschaft von Nantesbuch anstoßen. Aber wie spricht man über Landschaft? Will man ihrer Vielfalt, ihren mannigfaltigen Aspekten gerecht werden, so muss man sich unterschiedlicher Vokabulare zur selben Zeit bedienen: Ich werde zuweilen eine wissenschaftliche Sprache benutzen, wenn es darum geht, naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu beschreiben oder die vorgefundenen Lebewesen taxonomisch zu beschreiben. Das wissenschaftliche Vokabular soll hier einem persönlichen gegenübergestellt werden, mit dem Ziel, eine holistische Reflektion der Landschaft zu ermöglichen: Landschaft, wie sie sich phänomenologisch zeigt und wie ich sie demgegenüber emotional erlebe, respektive wie diese zwei Parameter sich über die Zeit und besonders letzterer mit zunehmender Vertrautheit verändern. Natürlich wird es immer Überlappungen, Unschärfen geben, da es die neutrale, von Emotionen und individuellen Perspektiven losgelöste Betrachtung, Beobachtung nicht gibt. Ich bin diesbezüglich der Überzeugung, dass eine vollständige Wissenschaft das emotionale, ästhetische Erleben eines Gegenstands miteinschließen und reflektieren muss; dies gilt insbesondere für die Naturwissenschaften. Umgekehrt soll das emotionale Erleben durch die Wissenschaft informiert sein. Das steht insbesondere beim fotografischen Teil dieses Journals im Vordergrund. Was kann ich wie zeigen, wie und was fotografiere ich, um wichtige Informationen zum beobachteten Gebiet in eine ästhetisch ansprechende Form, ein funktionierendes Bild, ein mediales Erlebnis zu bringen?
Den zweiten Tag hier in Nantesbuch verbringe ich ziemlich gehetzt, ein Meeting jagt das nächste und ich komme erst spät dazu, die Recorder an den ausgewählten Orten zu montieren. Der Running Gag bei den Ökoakustikern ist ja, dass sie ihre Recorder so gut verstecken, dass sie sie später selbst nicht mehr wiederfinden. Das denke ich mir insbesondere beim Gerät im Moor, welches ich an einem besonders knorrigen Baum zwischen zwei Verwachsungen befestigt habe – in der Hoffnung, dass ich den Recorder an diesem auffälligen Baum wieder finde.
Beim Permakultur-Garten stellen sich noch weitere Probleme – man fragt, ob die Gespräche, die der dortige Recorder aufzeichnet, in der Aufnahme verständlich seien. Ich winke ab, nicht ganz sicher, ob ich damit richtig liege – sicherlich würde man den Inhalt von Gesprächen verstehen, die ganz nahe beim Recorder geführt würden. Aber wer unterhält sich schon in dieser fernen Ecke des Gartens?